Binge-Knitting?

Der Begriff „Binge-Watching“ ist bekannt: es ist das Schauen mehrerer Folgen einer Serie hintereinander und war erst durch die Erhältlichkeit von Videokassetten möglich. Videokassetten? Tatsächlich musste ich den Begriff neulich einem Vertreter der Generation Z erläutern, ebenso wie das Speichermedium „Floppy Disc“. VHS und Betacam (die von mir bevorzugte Qualität) brachte den jungen Menschen dann völlig ins Schlingern.

Es geht eher um das Wort „Binge“, gesprochen binsch mit eher stimmhaften „sch“, aus dem Englischen kommend: „Gelage“. Bei Binge-Eating kann man sich das schon eher vorstellen, übermäßiges Essen mit Heißhungeranfällen fällt dann schon in den krankhaften Bereich, ein völliger Kontrollverlust über sein Essverhalten über längere Zeit mit körperlichen und seelischen Krankheitsfolgen.

Gibt es auch etwas wie „Binge-Stricken? Also ein Übermaß an Stricktätigkeit am Stück? Also Stricken oder Häkeln, bis der Faden eine Furche über den Zeigefinger gesägt hat oder der Arzt kommt?
Oft hört man die Aussage: ich bin total stricksüchtig.Was soll das sein?

Schauen wir uns einmal Suchtkriterien an, festgelegt durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sogenannte ICD 10-Kriterien

  • Es besteht ein starker Wunsch oder sogar zwanghaftes Verlangen nach Konsum, d.h. es besteht das Gefühl, nicht mehr ohne die Droge, also Stricken oder Häkeln auszukommen.
  • Es besteht eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Strickens oder Häkelns, d.h. wenn die betroffene Person sich vornimmt, mit dem Stricken oder Häkeln aufzuhören oder weniger zu stricken oder zu häkeln, gelingt das nicht unbedingt.
  • Das Auftreten eines körperlichen Entzugssyndrom, d. h. wenn das Stricken oder Häkeln weggelassen wird, sendet der Körper Symptome, z.B. Schlafstörungen, Unruhe oder auch Schmerzen aus. Sobald wieder gestrickt oder gehäkelt wird, verschwinden diese Symptome wieder. In der Klinik bezeichnet man diese Zeichen auch als körperliche Entzugssymptome.
  • Stricken oder Häkeln, mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern, und der entsprechenden positiven Erfahrung, d.h. die betroffene Person hat die Erfahrung gemacht, dass die auftretenden Entzugssymptome gemildert werden oder ganz verschwinden, wenn wieder gestrickt oder gehäkelt wird.
  • Es kann eine Toleranz nachgewiesen werden, d.h. die Menge, mit der die betroffene Person begonnen hat, reicht nicht mehr aus, weil sich der Körper schon zu sehr an das Stricken und Häkeln gewöhnt hat. Da das Bedürfnis im Vordergrund steht, eine gewisse Wirkung zu erzielen, steigert der Betroffene die Menge des Strickens oder Häkelns also immer weiter.
  • Andere Vergnügungen oder Interessen werden zugunsten des Strickens oder Häkelns zunehmend vernachlässigt, d.h. Stricken oder Häkeln steht im Vordergrund und es wird viel Zeit darauf verwendet die Mittel dafür zu besorgen, also Garne, Strick- oder Häkelnadeln und Anleitungen, sie durch Stricken oder Häkeln zu nutzen oder sich von der Anwendung zu erholen. Familie, Freund:innen, Schule, Beruf oder Hobbys werden vernachlässigt.
  • Stricken oder Häkeln wird trotz nachweisbarer eindeutiger schädlicher Folgen körperlicher, sozialer oder psychischer Art fortgesetzt, d.h. obwohl die betroffene Person merkt, dass das Stricken oder Häkeln negative Folgen hat, macht sie weiter.
  • Verstoß gegen gesellschaftliche Normen, d.h. dadurch, dass die Abhängigkeit so sehr im Vordergrund steht, ist für die betroffene Person wenig entscheidend, dass andere ihr Verhalten missbilligen, beispielsweise schon morgens zu stricken oder zu häkeln, ständig Garne und ein angefangenes Projekt dabei zu haben oder die Körperhygiene zu vernachlässigen.

Nach diesen Kriterien würde ich mich nun nicht als süchtig bezeichnen, aber wer weiß? Vielleicht ist meine Selbstwahrnehmung eine andere als die Fremdwahrnehmung.

Zur Anfangsfrage: gibt es Binge-Knitting? Also übermäßiges Stricken oder Häkeln mit völligem Kontrollverlust über sein Strick- oder Häkelverhalten?

Das kann ich uneingeschränkt bejahen. Mit 19 Jahren strickte ich einmal eine Nacht durch an einem Oberteil, damit ich es zu einem passenden Rock für einen besonderen Anlass tragen konnte. Hat zwar kein Mensch registriert, aber ich war doch beeindruckt von mir selbst, dass ich es konnte und den Festtag ohne zu schwächeln durchgehalten habe.
Und wer kennt nicht den Satz „nur noch eine Reihe, dann höre ich auf“?

Ich würde mich als sog. „Quartalsstrickerin“ bezeichnen, also anfallsweise jede freie Minute stricken oder häkeln. In anderen Zeiten gibt es Tage, an denen keine einzige Masche gearbeitet wird.

Diese Decke war so ein Binge-Projekt. Die drei Mittelquadrate hatte ich schon, wollte aber keine weiteren davon machen. Also integrierte ich sie in diese Decke. Wie üblich verwendete ich Spendengarne und Garne aus dem eigenen Vorrat, ohne Reste. Es gibt zu diesem Muster zwar eine Anleitung von Polly Plum, aber ich habe sie nicht verwendet, weil ich die Technik vom Bild abschauen konnte.

 

 

LanArta