Der Ziegen-BH

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Abends gegen 22 h ein Anruf: “Michaela, da müssen wir unbedingt helfen. Du kannst doch nähen oder kennst bestimmt jemanden, der das kann.”
Erste Antwort: Nähen nur, wenn es nichts Kompliziertes ist. Zweite Antwort ja. Dritte Antwort zur aufgeregten Connie vom Tauschring: worum geht’s denn?
Ziege Koko vom 4 km entfernten Ziegenhof hat zwei Zicklein, von denen das eine die Zitzen durch Kauen arg strapaziert. Koko schreit vor Schmerzen, wenn die Zicklein ernährt werden wollen, weil sie schon ganz wund ist. Die Milch wird abgemolken und den kleinen Rackern per Flasche verfüttert, bis die Wunden verheilt sind. Zum Schutz vor den kleinen Ziegenkauleisten soll das Euter einen BH aus festem Stoff bekommen.
Würde ich mir das zutrauen?

Koko noch unten ohne

 

Erst einmal auf den Ziegenhof zum Maßnehmen und sich über eine geeignete Konstruktion Gedanken machen.

Connie wollte eine gute Leinenschürze opfern, um daraus den BH für das Euter zu schneidern

 

Koko lässt sich das ganze Getüdel geduldig gefallen, andere Ziegen und Zicklein stehen drumherum und betrachten die Aktion. Man sieht ihnen nicht an, was sie davon halten, aber sie sind voller Vertrauen in das Geschehen, ebenso, wie die Bauersleute, die grinsend dabei stehen, nebenbei einen Zaun reparieren und uns machen lassen.

Der Ziegenhof liegt auf 400m Höhe, Zufahrt über eine Schotterpiste inmitten von Wiesen am Waldrand. Das Wohnhaus der Ziegenhalter ist klein und bescheiden angelegt, am Rande eines Bauerngartens. Gekocht wird möglichst oft mit einem Solarkocher.

Zu den großzügigen Ziegenställen kommt man an zwei keifenden Gänsen vorbei, mich kennen sie mittlerweile und melden sich nur noch verhalten, wenn ich komme.
Die Ziegen und Kühe hierzulande sind nicht nur Milchlieferanten, sondern in erster Linie Landschaftspfleger*innen. Im Frühjahr dürfen sie nebst ihrem Nachwuchs auf Bergwiesen. Dort wird alles abgenagt, was eine Verhurstung begünstigt, das heißt: eine Verwaldung mit Heide und Wacholdergestrüpp, sowie Fichten- und Buchenschösslingen. Die Pflege durch die Tiere erhält Weideflächen aufrecht und auch Lebensraum für bestimmte Pflanzen, Kleintiere und Insekten, die für das ökologische Zusammenspiel von Bedeutung sind.

Die angesteuerte Ziegenherde wird schon aufmerksam, wenn sich Menschen nähern. Ziegen sind neugierige, intelligente und soziale Tiere. Sie freuen sich auf Menschen, die mit Ihnen eine Runde um die Häuser gehen. Ja, auch das kann man am Ziegenhof. Man leiht sich die 30-40 Tiere starke Herde aus, oder auch nur einen Teil davon, und läuft mit ihnen um den Block. Wobei der Block bedeutet: an einem zweiten Bauernhof mit Pferdekoppel vorbei, einen kleinen Anstieg zum Wald hoch, auf der anderen Seite wieder hinunter, einen Rain entlang, und dann ist man wieder am Stall. Die Tiere genießen den Ausflug, gibt es doch unterwegs leckere Kräuter, die auf einer gemeinen Wiese nicht Fuß fassen. Man kann auch einen Hund zur Unterstützung bekommen, allzu übermütige Tiere werden von ihm schnell zur Räson gebracht.
Die Ziegen sind keine kleinen putzigen Tierchen, wie man sie aus dem Streichelzoo kennt. Der Leit-Bock der Herde geht mir mit aufrechtem Kopf bis fast ans Kinn. Alle wollen gestreichelt werden, aber die Rangordnung gibt vor, wer sich vorwagen darf. Taschen und Körbe sollten nicht unbeaufsichtigt sein, die Tiere durchstöbern den Inhalt auf Fressbares, und so musste ich einer Ziege auch schon mal einen Stoffrest aus dem Maul ziehen.

Dabei sein ist alles.

Wir wollen zu Koko, der bedauernswerten Mutter mit dem wunden Euter. Die dreiwöchigen Zicklein sind derweil im Stall und knabbern an mitgebrachtem frischem Laub, um sie abzulenken.

Connie lenkt die Zicklein mit den beißfreudigen Kiefern ab

 

Nach der Aktion mit der Leinenschürze beratschlagen Connie und ich, wie wir das Konstrukt angehen. Der Ziegen-BH muss sich leicht anlegen und abnehmen lassen zum Melken. Dennoch darf er nicht verloren gehen und auch nicht beim Pinkeln und Kötteln beschmutzen. Die Befestigung war zunächst mit Bindebändern und Gürteln beabsichtigt. Bauchgurte, Rückenbänder, Halsband; vor meinem inneren Auge sah das Tier schon aus wie in einem Erotik-Leder-Kostüm aus Strapsen.

Ich tendierte zu: keep it simple!
Der Euterbeutel: zwei ineinandergelegte Stofftaschen, in Form geschnitten, vernäht und mit einem Kordelzug mit Stopper versehen.

Der Prototyp für die Befestigung: ein XXXl-Shirt aus Ökobaumwolle, bei dem die Ärmel abgeschnitten wurden. Für die Zicklein am Bauch ein paar Einschübe, in die man Zweige, Grasbüschel oder ähnliches einlegen kann, um ihren Knabbertrieb zu befriedigen und gleichzeitig nahe der Mutter zu sein.

Der Beutel wird mit Hosenträgern am Shirt befestigt.

 

 

Koko ließ sich alles brav anziehen und wir besprachen Verbesserungsmaßnahmen. Sie lief zunächst etwas steifbeinig, gewöhnte sich aber nach und nach an den Fremdkörper und lieferte den Beweis, das der Toilettengang ohne Verschmutzung vonstatten geht. Dann suchte sie sich ein Plätzchen, um saftige Brennesseln zu mampfen, danach gab sie ihrem Klettertrieb nach und sprang auf einen Palettenstapel, der genau zu diesem Zweck zusammen gezimmert war.

Die Pinkelprobe

 

 

Jetzt wird gleich geköttelt

 

Anprobe mit Korrekturen

 

Connie gab zu bedenken, dass die Kleinen gern auf der Mutter herumklettern und insofern eine Rückenverstärkung nicht verkehrt sei. Der zweite Ziegenbody entstand aus einem Unterhemd des Ziegenvaters. Größere Armausschnitte wurden gesäumt, denn die Ziegenbrust ist sehr schmal. Ein altes Frotteehandtuch gab den Rallyestreifen.

 

Ja, Landleben kann ganz schön aufregend sein.

 

 

LanArta

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6 Responses

  1. Tolle Idee. Unsere Ziege hat ein Euter, soass die Zitzen auf dem boden liegen. Jetzt ist sie auch noch trächtig und so wird sie die Kitze nicht säugen können.Daher sind wir die ganze Zeit am.überlegen was wir für sie konstruieren können damit die Zitzen höher hängen . Das hier ist schon mal eine tolle Anregung

  2. Guten Morgen, Annette,
    vielen Dank für deinen Besuch hier!
    Koko ist zum Glück eine ganz Geduldige. Dass man ihr helfen konnte, ist ihrem vertrauensvollen Naturell zu verdanken. Viele Grüße
    Michaela

  3. Liebe Michaela! Was für eine schöne Bildergeschichte! Schön, daß Du der Ziege helfen konntest.
    Beste Grüße von Annette