Kunstbetrachtung – Die strickende Frau

Kunstbetrachtung oder Bildbeschreibung war ein Standartthema im Kunstunterricht. Anfangs fand ich das nicht besonders prickelnd. Unsere Lehrerin konfrontierte uns mit Werken, deren Name in unseren Augen kaum die Bildinhalte wiedergaben. Aber sie blieb hartnäckig und verstand es, uns die Kriterien einer Bildinterpretation (und auch von Skulpturen) so nahe zu bringen, dass wir uns in der großen Pause in den der Schule benachbarten Park begaben um die dortigen Exponate systematisch zu untersuchen und zu analysieren, teilweise mit hochgestochenen Phrasen für banale Exponate, bei denen wir uns kaputt lachten.

Natürlich gibt es auch Persiflagen der Kunstbetrachtung, immer wieder können wir uns darüber amüsieren, wie bei Vernissagen die Kunstwerke in einer eigenen Sprache vorgestellt werden. „International Art English“ nennt die Soziologie den Soziolekt, der sich in der Kunstwelt festgesetzt hat. Wichtigste Merkmale: möglichst viele Substantivierungen (aus „visual“ wird „visuality“) oder komplette Überdrehungen wie „experiencability“ statt „experience“. Nachzulesen im unten genannten Stern-Artikel.

Manchmal erinnert das an eine Weinverkostung, bei der keiner der Anwesenden den „Apricot-Abgang“ oder „eine Komposition aus nussiger Olive und dunkler Schokolade“ herausschmeckt, außer dem Sommelier oder dem Winzer.

Der bekannte Cartoonist Tom Körner hat das Charakteristische zweier Personen, die frei von künstlerischem Interesse einer Vernissage beiwohnen, in einem seiner typischen 3-Bilder-Comics eingefangen:

Person 1 und 2 stehen vor einem großformatigen OEuvre mit schwer pastösem Farbauftrag. Wild geschwungene Formen, keine erkennbare Bildaufteilung.
Person 1: wie lautet denn der Titel?
Person 2 kniet fast auf dem Boden neben einem kleinen Schildchen und liest vor: unverkäuflich.
Person 1: Stimmt.

Einen Artikel über Vernissagen, der die Besonderheiten mit sezierendem Blick einfängt habe ich vor einiger Zeit im Stern gefunden. Titel: Blöd rumstehen, klug aussehen. 

Vor kurzem bin ich im Netz auf ein Bild gestoßen. Eine lebensgroße Metallskulptur, die strickend auf einer Bank sitzt und in den Himmel blickt. Oder zu jemandem auf? Als erstes dachte ich: da wird wieder mal typisch ein Klischee bedient: Strickende alte Frau.
Ein Abbild einer Figur, die sich einer anscheinend banalen Tätigkeit hingibt, das sieht man selten, da musste ich recherchieren.

Das ist das Bild, das mir auffiel

Bildquelle

Die Suche nach Informationen zu dieser Skulptur startete ich mit den Fragen:

  • Wo steht sie?
  • Wer hat sie gemacht?
  • Wie lange steht sie dort?
  • Gab es einen Anlass, sie anzufertigen?

Man findet die strickende Frau in einem Park oder Platz in der Nähe des Drama-Theaters oder Schauspielhauses inmitten der Stadt Belgorod, 2500 km von hier im europäischen Teil Russlands nahe der ukrainischen Grenze. In Belgorod leben zwischen 300.000 und 400.000 Einwohner.
Es ist das erste Werk der beiden damals jungen Künstler Taras Kostenko und Dmitry Ivanchenko, Studierende am Kharkov Kunst Institut.

Am „Tag der Stadt Belgorod“ im August 2005 erhielten die Bürger der Stadt ein Geschenk in Form neuer Denkmäler. Diese Skulptur ist eine davon. Sie ist aus Bronze gefertigt und wiegt 300kg. Von einem befreundeten Künstler weiß ich, dass Bronzeskulpturen kostspielig sind und fünfstellige Beträge in der Herstellung als preiswert gelten, selbst, wenn sie kostengünstiger im osteuropäischen Ausland gefertigt werden.

Die jungen Bildhauer nannten ihr Werk „Erinnerung“, offiziell wird die Skulptur „Denkmal für die Großmutter“ genannt. Viele Parkbesucher machen Bilder und setzen sich dabei auch neben die Strickende.

Nachdem die „Formalitäten“ abgehakt sind, lohnt es sich, näher hinzuschauen.

  • In einer verhältnismäßig leeren Parkumgebung mit genau abgegrenzten geplättelten Wegen hat die alte Dame eine eigene Sitzgelegenheit. Eine Bank mit Füßen, die ein wenig an die geschwungenen Beine von Chippendale-Möbeln erinnern. Die Sitzfläche jedoch besteht aus groben Holzplanken, wie wir gleich in einer anderen Abbildung erkennen werden. Der Platz an ihrer rechten Seite ist frei.
  • Bekleidet ist sie mit einem schlichten Kleid, einem hinabrutschenden Schultertuch und einer Art offener Pantoffeln.
  • Sie strickt etwas, das auf den ersten Blick wie ein Schal im Rippenmuster aussieht, das geht anscheinend ohne hinzusehen, denn sie schaut mit schräg nach hinten geneigtem Kopf lächelnd, mit gütigem Gesicht und mit verklärtem Blick gen Himmel oder in die Ferne.

 

Sehen wir uns die alte Dame aus einer anderen Perspektive an

  • Man sieht etwas mehr von der Umgebung des Bänkchens. Im Hintergrund hat es eine Springbrunnenanlage, über die eine Fußgängerbrücke führt. Mittlerweile scheint es ein trockener Sommer geworden zu sein, man erkennt es am vertrockneten Rasen und den verdorrenden Blättern.
    Nun sieht man auch die typische Holzmaserung auf der Sitzfläche der Bank.

 

  • Die alte Frau trägt eine Knotenfrisur. Sie arbeitet mit zwei Wollknäueln, wobei man nicht erkennen kann, ob sie beide Knäuel gleichzeitig verstrickt oder abwechselnd in Streifen.

 

  • Mehrere Details erkennen wir hier: Vandalismus mit faschistoidem Hintergrund gibt es fast überall.
  • Der Blick fällt außerdem auf die hervorstehenden Schlüsselbeine und das auffällige Brustbein, das sich unter dem Kleid abbildet. Vielleicht ist es aber auch ein Halstuch, das sich im Ausschnitt bauscht.
  • Das Gesicht scheint aus diesem Blickwinkel männlicher und nachdenklicher zu wirken, das verklärte Lächeln ist nur im Ansatz erkennbar.
  • Hier fällt auch besonders auf, dass die Frau nicht an einem Schal arbeitet, sondern an einem Strumpf von der Zehe aus gestrickt, dessen Schaft sehr lang geworden ist.

 

Bildrechte Fairy Tale Map of Russia
  • Die Herbstzeit wurde genutzt, um der strickenden Großmutter eine Blätterkappe aufzusetzen. Erinnert ein wenig an die Badekappen beim Synchronschwimmen.
    Oder an die Frisur von Angela Davis.

 

 

  • Gleich kommt der Parkangestellte mit dem Laubsauger.

 

Was auf den ersten Eindruck wie ein Stereotyp aussieht „strickende Oma auf Bänkchen“, altertümliche Darstellung, Abbildung einer Beschäftigung für alte Frauen, bekommt durch die weitere Betrachtung tiefere Bedeutung.
Die beiden jungen Künstler haben vor 15 Jahren ein Symbol geschaffen, das dauerhaft das Gedenken an die Großmutter, die „Babuschka“ ausdrücken soll. Dazu haben sie der Mimik der Frau Attribute verliehen, die zumindest in der westlichen Welt als „großmütterlich“ erkannt werden: Güte, Milde, Wohlwollen. Ungeachtet, was sie erlebt hat, ihr Gesicht drückt nur Positives aus.
Die klassische Frisur zeigt gleichermaßen Bescheidenheit, wie das schlichte Kleid: kein Schnickschnack, keine Extravaganz. Die Hausschlappen sind der Bequemlichkeit geschuldet, nicht mehr der Verpflichtung zu unterliegen, sich in enge Schuhe zu zwängen. Nur wenn es notwendig ist, sperrt man die Füße ein.

Durch welche Tätigkeit kann man großmütterliche Beschäftigung ausdrücken?
Nähen? Augen zu schlecht.
Häkeln? Vielleicht.
Kartoffeln schälen? Zu profan.

Die Bildhauer haben mit dem Strickstrumpf eine Tätigkeit aufgegriffen, bei der man seinen Gedanken und Erinnerungen nachhängen kann. Die alte Frau hat vermutlich so viele Strümpfe gestrickt, dass sie es im Schlaf kann.
Verwunderlich, dass sie den Strumpf von der Zehe her strickt, ich hätte nicht gedacht, dass diese Technik den jungen Herren seinerzeit bekannt war. Jedoch hätte ohne diese Vorgehensweise der tiefere Sinn nicht dargestellt werden können.

Die Strickerin denkt und erinnert sich. Ihrem Gesichtsausdruck nach an angenehme Dinge. An so viele angenehme Dinge, dass sie nicht einmal bemerkt, wie der Schaft immer länger wird.
Der lange Schaft, der die Vergänglichkeit der Zeit darstellt.

LanArta

3 Responses

  1. Liebe Michaela!
    Schön, daß Dein Blog wieder aufgewacht ist! – Und tolle Decken hast Du wieder produziert!
    Beste Grüße von Annette