Apparatestricken – die neue Sportlichkeit

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Kennzeichen eines Turbo-Ichs ist der Bedarf ständiger Bestätigung durch Konsum, Selbstverwirklichung oder beruflichen Erfolg. Der Satz stammt nicht von mir, sondern von Juli Zeh. Und weiter sagt sie:  “Turbo-Ichs konzen­trieren sich auf sich selbst, das Internet ist eine Ich-Maschine, der größte Narzissmus-Generator der Welt”. Tja, da sollte ich mir nun auch den Vorwurf gefallen lassen, mich in die Kategorie einreihen zu müssen, weil ich dieses Blog führe und die Welt über meine Befindlichkeiten informiere.

Immerhin kann ich mich rühmen, nicht bei Facebook oder Whatsapp zu sein und noch keinen Industrieburger gegessen zu haben. Auch ein Selfie blieb der Menschheit bisher erspart und Ratings wie Likes und Dislikes von mir persönlich nicht bekannten Personen gehen mir am Arm vorbei. Seltsamerweise fühle ich mich weder uninformiert noch von der Welt ausgeschlossen, und mit datenschützenden Alternativen zu Whatsapp kann man sich hervorragend organisieren und committen – weltweit, wie ich bestätigen kann. Die Selfiegeneration und die NSA bekommen nicht mit, dass ich meinen Freunden mitteile, ich käme mit der S3 um 13.37 h in Poppenbüttel an. Oder ich verabrede mich mit meiner Ehrenamtsgruppe in Müllers Straußi zum Viertele Gutedel . Dieses “Nicht-Dabei” müssen die “Auch-Dabeis” erstmal verkraften!

Meinen Twitter-Account habe ich längst aufgelöst, weil ich es leid war, Zeit damit zu verplempern, an der Klotür des Internets Verlautbarungen ähnlicher Qualität, wie in entsprechenden Lokalitäten zu lesen. Wenn ich sehe, wer sich da tummelt und wes Geistes Kind sie sind: nö, mit denen schwimme ich nicht im gleichen Becken. Das bin ich mir Wert.

Ich verwanze mich auch nicht mit einem Fitnesstracker. Freund*innen, mit denen ich live und in Farbe kommuniziere, versichern, so ein Dingsie würde sie motivieren, bewegungsfreudiger oder sogar sportlich zu sein. Die Anzahl der täglich zu laufenden Schritte wird festgelegt und die Gedanken und Blogbeiträge kreisen immerzu darum, man müsse ja noch etliches laufen, um auf die erforderliche Schrittzahl zu kommen, die man sich – Vorsicht! Pleonasmus – aufoktroyiert hat .

Irgendwie bin ich nicht dazu gemacht, mich von so einem Kästchen terrorisieren zu lassen. Ich trage übrigens auch keine Uhr, dennoch peste ich die mit mir Verabredeten selten durch Unpünktlichkeit. Nein, ich bin definitiv kein Tugendbold und neulich hätte ich mir einen Schrittzähler für die Arbeit am Grobstricker, dem Apparat mit der Typenbezeichnung KH260, in der Tat gewünscht.

Webmuster sollten über die gesamte Breite des Nadelbetts gestrickt werden, also suchte ich Lochkarten heraus, bei denen die einzuwebenden Fäden nicht allzu lang und lose werden, damit sich niemand in den Schlaufen verfängt.
Schon bei der Anfertigung des Klappbündchens stellte ich fest: im Sitzen bekomme ich den Schlitten nicht gleichmäßig über das gesamte Nadelbett geschoben, die Strecke ist ziemlich lang. Also: arbeiten im Stehen. Nachteil: selbst ein Stümpfchen wie ich gerät in leicht gebückte Haltung. Da es keinerlei Vorschriften gibt, wie man sich am Strickapparat zu bewegen hat, lief ich – den Webfaden im Auge behaltend – an der Maschine entlang: drei Schritte von einem Ende zum anderen, Wendeschritt, drei Schritte zurück. Macht pro Schlittenfahrt vier Schritte. Und bei 900 Reihen? Naaaaa? Klappt’s noch ohne Taschenrechner? Genau: 3600 Schritte. Diese zur üblichen Alltags-Schrittmenge hinzuaddiert kann man in der Tat schon als sportliche Einlage bezeichnen. Den Energieverbrauch beim Schieben des Strickschlittens nichtmal eingerechnet.

Und als Turbo-Ich muss ich das natürlich der werten Leserschaft verkünden. Juli Zeh bemängelt weiterhin, man bekäme schon beim ersten Blick in eine Zeitung oder Online Nachrichtenseite keine Informationen, sondern die aufbereitete Meinung eines/einer Journalisten/Journalistin, Selfie-Journalismus sozusagen, mit dem sich die Schreiberschaft profilieren will. Genauso ekelhaft findet sie das Verhalten bei Politiker*innen, die ihre verbalen Absonderungen (Ausdruck von mir, nicht von Juli Zeh) permanent bei Twitter publizieren. Das sei völlig unsinnig, denn für die Meinungsäußerungen von Politikschaffenden (Ausdruck ebenfalls von mir) sei das Parlament da.

Dann sperre ich das Turbo-Ich jetzt für den Rest des Postings weg und informiere nur noch über die Faktenlage:
Bei der Decke “Lavendelfeld” kann man die Herkunft des Projektnamens eindeutig zuordnen. Das Webmuster soll eine Art Kästchen darstellen, ist aber optisch nicht eindeutig wahrnehmbar, weil das wuschelige Web-Garn und das gewickelte Konengarn aus mehreren Farbtönen das Design verschwimmen lassen.

Zum ersten Mal versuchte ich mich am Webstricken an dieser Apparatur. Ich war schon versucht, dem Schlitten die Schuld zu geben, weil es nicht klappte, bis ich nach langer Fehlersuche feststellte, dass die Webbürsten an der Stelle für Fangmuster (was ich zuvor gestrickt habe) eingeschraubt waren, klassischer Fall von “read the phucking manual…”.
Die Seitenränder sind doppelt und geklappt, und damit reversibel, an den Schmalkanten habe ich zur Vermeidung des Einrollens ein halbes Zopfmuster gestrickt.
Größe: 110 cm x 140 cm, Verbrauch: 1051 g Spendengarne.

Webmuster-Detail

 

Ansicht Vorder- und Rückseite

 

Diese Grünfläche musste in zwei Teilen gearbeitet werden, da sonst die gewünschte Breite nicht erzielt worden wäre. Die Größe beträgt 200 cm x 130 cm.

Auch hier wirkt das Muster verschwommen wegen des unruhigen Hintergrunds und auch dem stark strukturierten Raupengarn, das zum Einweben genutzt wurde.

Gut erkennbar: die lilafarbenen Reste der Lavendeldecke wurden komplett verwertet. Insgesamt stecken 2400 g Spendengarne in der Spendendecke.

 

 

Musterdetail

 

Vorder- und Rückseite

 

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LanArta

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5 Responses

  1. Zitat: Juli Zeh bemängelt weiterhin, man bekäme schon beim ersten Blick in eine Zeitung oder Online Nachrichtenseite keine Informationen, sondern die aufbereitete Meinung eines/einer Journalisten/Journalistin, Selfie-Journalismus sozusagen, mit dem sich die Schreiberschaft profilieren will.

    ——
    Das empfinde ich gerade zu Zeiten des Corona-Journalismus’ als absolut aktuell! Aus wenig gesicherter Faktenlage werden momentan reißerische Artikel erzeugt….

  2. Guten Abend, ich habe lange nicht so viel geschmunzelt , wie bei diesen hervorragenden Texten. Eigentlich wollte ich ja Maschine Stricken lernen, nun habe ich Berge von Wolle, eine Herde von Maschinen…aber komme nicht vorwärts, da ich allenthalben über Blogs stolpere, von denen ich nicht wieder loskomme. Also…wenn in der Zeitung die fette Schlagzeile lautet: alte Dame am Fuß einen Wollberges vertrocknet und Spinnweb behangen vorgefunden…bin ich’s !!! Herzlichst Ina

    • Vielen Dank, Ina!
      Ja, dem Maschinenstricken muss sich konzentriert gewidmet werden. Und wenn du in deiner Nähe Hilfe findest, hast du beste Chancen, gut voran zu kommen. Hilfreich ist tatsächlich, wenn man die Sachen aus der Anleitung gut durcharbeitet.
      Was für Apparate hast du denn?

      Es ist tröstlich zu lesen, dass auch du nicht zu wenige Garne hast. Mit den Maschinen hat man wenigstens die Chance, etwas davon abzubauen.
      Dir eine gute Woche!

      Michaela

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