Zweiter-Ärmel-Syndrom oder Finish-Phobie?
Es gab einige Anfragen, warum ich ein Dutzend angefangener Teile habe auflaufen lassen. Man wollte wissen, ob das am „Zweiter-Ärmel-Syndrom“ liegt.
Das „Zweiter-Ärmel-Syndrom“ bezeichnet die Unfähigkeit, dem Kleidungsstück den zweiten Ärmel zu stricken, danach könnte das Projekt beendet und getragen werden. Oder was immer man damit vorgehabt hätte. Bei manchen schlägt dann aber noch die Finish-Phobie zu. Dieser Begriff wurde von mir für die Schwäche entwickelt, Strickteile aneinander zu fügen, Fäden zu vernähen, Randabschlüsse anzubringen.
Darüber könnte ich nun fundiert abhandeln, aus welcher psychologischen Konstitution heraus sich ein solches Verhalten gebildet haben könnte. Es gibt sowohl in der Strickwelt als auch im übrigen Leben genügend Beispiele für Menschen, die sich voller Enthusiasmus an ein Projekt begeben, es aber kurz vor dem Ziel nicht beenden können. Angefangen von Trennungsängsten vom Projekt bis hin zu Bequemlichkeit gibt es viele Spielarten.
Im Alltag begegnen wir solchen Menschen häufig, die beispielsweise die Teetasse nicht in die Spülmaschine stellen, sondern auf die Ablage direkt darüber (bis sich 10 Tassen angesammelt haben und die ersten bereits einen Schimmelsatz drin haben), die den Staubsauger nach dem Gebrauch nicht wegräumen, und so fort. Der letzte Schritt um eine Aktion vollständig abzuschließen fehlt. Ihr wisst, was ich meine.
Warum meine Teile nicht fertig werden, bzw. warum so viele angefangene Teile existieren, kann mehrere Gründe haben:
- Ich stricke viel unterwegs. Irgendwann werden die Teile zu groß, um sie mitzunehmen
- Ich habe eine Idee für ein Design, und das muss ich unbedingt ausprobieren. Diese Projekte werden aber meist schnell beendet (oder aufgetrennt)
- Damit einher geht: mir gefällt ein Design, und ich muss es sofort beginnen, komme aber entweder zu Punkt 1 oder zu Punkt 2 oder zu Punkt 4
- Das Projekt langweilt mich irgendwann, aber ich weiß, dass ich es doch abschließen werde, weil ich schon zu viel Zeit hinein gesteckt habe, oder es wird aufgetrennt. Zwei Projekte mit dem gleichen Garn gammeln gerade bei mir herum, das eine, weil es unsäglich öde ist (Kaisermantel, Karen Noe), aber schick aussieht und daher mit dem Handstrickapparat gemacht wird, das andere, weil das Garn nicht passt, die Zopfmuster (St. Brigid, Alice Starmore) wirken nicht schön. Beides ziehe ich wohl auf und starte damit ein drittes Projekt 😀 Ich weiß auch schon welches.
- Eines der anderen Teile muss fertig werden, weil Geschenk, dafür bleibt das neueste liegen.
- Ich stricke gleichzeitig an mehreren Projekten bis zu 1., 2., 3.,4., 5., und da ich nur eines in der Hand halten kann, müssen die anderen warten und werden entsprechend später fertig.
- Bei einem Projekt brauche ich das Restgarn von einem anderen Projekt, eine nette Spielart, nicht wahr?
Das „Zweiter-Ärmel-Syndrom“ gibt es bei mir nicht, weil ich mindestens einen Ärmel meistens zwischendrin stricke, dann habe ich am Ende nur noch den Ärmel, der schnell gestrickt ist. Es sei denn, Garn ist knapp, dann stricke ich erst den Korpus mit allen Blenden und die Ärmel danach gleichzeitig, damit sie die gleiche Länge bekommen.
Ach ja: mit dem Ausarbeiten habe ich gar keine Probleme. Fäden vernähe ich meist schon nebenher.
Allerdings kann die Ausarbeitung schonmal richtig lang gehen. Was auf dem Handstrickapparat gemacht wurde, ist meistens etwas störrischer als das Handgestrickte.
Meiner Meinung nach gehört die Ausarbeitung zum Stricken dazu. Sie schließt den Kreis des Projekts, der aus den vorbereitenden Maßnahmen besteht, wie Wollekauf, Maschenprobe, richten des geeigneten Materials. Dann das Stricken an sich und schließlich das Finish, also der Zieleinlauf.
Wäre einmal spannend zu prüfen, ob diejenigen, die bei der Hürde des Finishs Probleme haben, auch die Maschenprobe scheuen 😉